Zusammenfassung: Industriepolitik I mit Wolfgang Lemb (IG Metall) am 10. Mai 2023

Julia Schramm von der Koordinierungsgruppe des wirtschaftspolitischen Gesprächskreises führte in die Veranstaltung ein. Sie wies auf den Folgetermin am 22. Juni hin, an dem der Gesprächskreis mit Vertreter*innen der LINKEN über Narrative und Konzepte für eine effektive Industriepolitik diskutieren möchte.

Wolfgang Lemb stellte sich kurz vor, begrüßte die virtuellen Teilnehmerinnen und Teilnehmer und referierte unterstützt durch Powerpoint-Folien. Wie er zu berichten wusste, forderte die IG Metall schon jahrelang eine aktive und eingreifende Industriepolitik, bis vor Kurzem allerdings vergeblich. Nun habe sich dies geändert. Selbst Ordoliberale sähen dies nun anders oder spielten politisch eine geringere Rolle. Die US-Amerikaner seien Deutschland und Europa damit mit dem sogenannten Inflation Reduction Act, kurz IRA einen Schritt voraus. Beim IRA gehe es faktisch weniger um Inflationsbekämpfung, als um eine aktive Strategie zur Re-Industrialisierung. Dieses Vorhaben sei gekoppelt worden an das ausdrückliche Ziel einer Stärkung der US-amerikanischen Mittelschicht. Erreicht werden solle dies u.a. durch gezielte Unterstützung ärmerer Kommunen, wobei als „ärmer“ solche angesehen werden, die finanzschwach sind und/oder eine hohe Armutsquote aufweisen sowie Arbeitsplatzverluste durch Rückbau fossilen Energieträger. Auch sollen Beschäftigtenrechte gestärkt werden. Dadurch zielt der IRA auf nicht weniger als einen Umbau der US-amerikanischen Wirtschaft. 

Sachlich stehe die CO2-freie Energieversorgung im Mittelpunkt. Damit verknüpft sei das Vorhaben, Rohstoffe für CO2-freie Produktion in den USA selbst zu gewinnen oder von verbündeten Ländern zu beziehen. Bislang kämen die heimisch verwendeten Rohstoffe zu 80 Prozent nicht aus den USA selbst oder aus Ländern, mit denen die USA Freihandelsabkommen haben. Die Instrumente des IRA seien uns in Europa und Deutschland wenig vertraut, nämlich Steuergutschriften („tax credits“), die an bestimmte Anforderungen in den Einzelprogrammen gekoppelt würden.  

Das Gegenstück der EU sei der Green Deal Industrial Plan. Dieser sei zum Teil schon in Umsetzung, zum Teil noch in der Diskussion. Beim Beihilferecht lägen aus Sicht der Gewerkschaften noch Baustellen. Beim Geld, sprich bei den Subventionen sei die EU mit dem IRA in den USA bereits gleichgezogen. Unter dem Dach eines Important Project of Common European Interest (IPCEI), d.h. eines strategischen Förderprojekts der EU-Kommission solle Wertschöpfung im Photovoltaik-Bereich in Deutschland gehalten oder zurückgeholt werden. „Der Grundsatz der US-amerikanischen Politik ist: Sie fördern erst mal, und sie fördern allgemein. In Europa muss man erst mal beantragen. Für die Unternehmen ist die US-amerikanische Variante einfacher.” Aus Sicht Wolfgang Lembs müsse Industrie-, Energie-, Struktur- und Beschäftigungspolitik in Deutschland besser und enger verzahnt werden, um eine „gelingende Transformation“ zu schaffen. Dazu gehörten geschlossene Wertschöpfungsketten. Derzeit stünden die Stahlindustrie und die chemische Industrie in Deutschland auf der Kippe. 

Zu Ostdeutschland betreffenden Fragen äußerte Wolfgang Lemb, die neuen Bundesländer seien sehr unterschiedlich. Die Zerklüftung in 16 Einzelmaßnahmen in der föderalen Bildungsstruktur sollte überwunden werden. Der Osten habe niemals so gute Chancen gehabt wie jetzt, sich industriell zu entwickeln. Dies liege nicht nur an den Großunternehmen wie Tesla, Intel, Infineon u.a. Vielmehr gäbe es derzeit signifikante Zunahme an Ansiedlungsstrategien. Der Osten verfüge über ein deutlich höheres Ausbauniveau bei den erneuerbaren Energien. Die bisherigen, industriestarken Regionen seien hingegen stärker gefährdet. Unwahrscheinlich sei es, dass Forschung und Entwicklung bestehender Unternehmen in den Osten kämen. Erfolgversprechender sei es, bei neuen Unternehmen anzusetzen. Am 5.9.2023 werde in Chemnitz eine industriepolitische Tagung der IG Metall stattfinden.

Im Hinblick auf Fragen zu Bildung und Ausbildung bemerkte Lemb, die Beschäftigung in den Betrieben müsse gegenüber akademischen Jobs attraktiver werden. Dies habe viel mit Arbeitsbedingungen, -zeit und besseren Löhnen zu tun. In diesen Zusammenhang gehöre auch der Einsatz der IG Metall für die Vier-Tage-Woche. Diese Frage sei jedoch kein ost-, sondern ein gesamtdeutsches Problem. Zur Ausgestaltung der Industriepolitik sagte Wolfgang Lemb, dass man über „Local Content“ (Investitionsauflagen zur Erhöhung des regionales Wertschöpfungsanteil der Produkterstellung, der sich durch Erbringung lokaler bzw. nationaler Zulieferteile bzw. am Montagestandort erbrachter Arbeitsleistung aufaddiert) heute entspannter diskutieren könne als früher, allerdings werde man innerhalb der EU die WTO-Regeln einhalten, anders als im IRA vorgesehen ist. Gleichwohl sei es möglich, WTO-konform Vorgaben zum „Local Content“ zu machen, indem man den CO2-Fußabdruck als Begründung heranziehe.

Zu Fragen der Mitbestimmung führte Wolfgang Lemb aus, dass es zwar leider keine Transformationsräte gebe, aber immerhin 27 Transformationsnetzwerke, was noch mit der letzten Merkel-Regierung verabredet wurde. Diese seien in allen wichtigen Regionen jetzt verankert und sollen regionale Industriestrategien und -leitbilder entwickeln. Die IG Metall sei nicht untätig geblieben, sondern habe eine Initiative für mehr Mitbestimmung gestartet und ein neues Mitbestimmungsgesetz geschrieben. Es liege beschlussfertig vor, die Ampel-Koalition müsse es nur noch verabschieden. Mit Blick auf Tesla sagte Lemb, dort seien derzeit 12.000 Beschäftigte angestellt. Elon Musk werde nie ein Freund der Gewerkschaften und der Mitbestimmung werden. Es gebe dort aber einen Betriebsrat, der gegen massive Widerstände durchgesetzt wurde. „Es liegt noch viel Arbeit vor uns, was gewerkschaftliche Erschließungsarbeit angibt.“ Für die gewerkschaftliche und tarifliche Zusammenarbeit Europa verweist Lemb auf den Versuch der Lohnkoordination im Rahmen von Industry4All Europe. 

Zu Finanzierungsfragen der Industriepolitik führte Lemb hinsichtlich der Finanzierungsseite aus, dass Industriepolitik eine Umverteilungspolitik voraussetze, aber zugleich Instrumente gemeinsamer Schuldenfinanzierung nötig seien, „sonst klappt es für die ärmeren Länder nicht“. Beim IRA sei zu beachten, dass die darin vorgesehene Mindestbesteuerung nichts zu tun habe mit der Mindestbesteuerung von Unternehmen, die im Rahmen der G7-Gipfel vereinbart worden sei. Auf der Ausgabenseite müsse bei der europäischen Antwort muss sichergestellt werden, dass diese nicht nach dem Matthäus-Prinzip funktioniere, sondern auch ärmere Länder etwas davon haben. Der beihilferechtliche „Befristeten Krisen- und Übergangsrahmen“ (Temporary Crisis and Transition Framework, TCTF) sei eigenständig und nicht nur zum Gleichziehen mit den IRA-Subventionen in den USA gedacht. Eine Lohnbindung der Fördermaßnahmen bestehe in der EU nach wie vor nicht ausreichend. Immerhin sei nach hartem Ringen im Oktober 2022 die Mindestlohn-Richtlinie verabschiedet worden. Viel entscheidender als die Punkte zu Mindestlöhnen seien darin aber die Forderung nach einer 80 Prozent-Tarifbindung. Jeder Mitgliedstaat, der diese Schwelle unterschreitet, muss ein Aktionsprogramm zur Stärkung der Tarifbindung auflegen. Dies sei einer der Hintergründe für Hubertus Heils strengere Linie beim Vergaberecht. Es gibt die CO2-Abgaben. Ab nächstem Jahr wird es sie für die Nicht-ETS-Sektoren geben. 

~ verfasst von Alban Werner

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